Retailoring ist eine Kunst

Retailoring ist eine Kunst

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Man erinnert sich noch genau an die Situationen mit den Eltern oder den Großeltern, wenn man sein Outfit rechtfertigen musste. Da sagt dann eine Oma: „Kind, was trägst Du denn da? Das passt doch hinten und vorne nicht.“ „Oma, das trägt man jetzt so!“, entgegnete man meist reflexartig. Man deckte sich in den Mantel der modischen Trends, verbarg sich in der Masse der Gleichgekleideten und hoffte darauf, dass die Oma auch etwaigen Trends in der Jugend erlegen war.  Doch eigentlich wäre der konsequente Schritt – wie die Oma es unterschwellig empfiehlt - sich nicht in Kleidung zu werfen, die entweder bei jeder unruhigen Bewegung vom Leib fällt oder Assoziationen mit Presswürsten hervorruft, sondern mit den Klamotten zum Änderungsschneider zu gehen und sie anpassen zu lassen. Hierbei gibt es allerdings mehrere Probleme...

Mode ist nicht mehr für den Träger gemacht

Das allererste Problem ist, dass Modedesign nicht wie Schneiderware auf den Menschen geschneidert wurde, sondern auf ein Modeideal, das nur wenige unter uns erfüllen. Soweit ist das ja noch keine Hürde, wenn man jetzt beispielsweise genügend Extrastoff an den Nähten hätte. Ein guter Schneider könnte die Naht auslassen und so perfekt an den Kunden anpassen. Das möchte aber ein modernes „Fashionlabel“ nicht, weil es die Kontrolle über den Träger verliert – sprich, welcher Körpertyp und welche Art Mensch trägt mein Label - und so in der Welt des ständigen Instagrams keine „signature looks“ und Designerschnitte mehr im Auge des Betrachters bzw. in dessen Gehirn etablieren kann. Außerdem sieht der Designer – ich komme mir manchmal vor, wie bei Zoolander, wenn ich den Müll hier schreibe – in seiner Mode extreme Kunst und möchte in jeder Saison etwas bestimmtes durch seinen Schnitt aussagen, um so die exorbitanten Preise für meist minderwertige Klamotten zu rechtfertigen. Kurzum, die Modewelt war schon mal „näher bei die Leut’“, wie man im Rheinland zu sagen pflegt.

Die Qualität der Schneider hat nachgelassen

Schneiderware kommt aus einer komplett anderen Richtung: Der persönliche Körperbau und der Zweck stehen im Vordergrund. Wenn Sie zu den glücklichen gehören, die sich für diesen Weg entschieden haben, Ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen – FYI: Ein guter Schneider kreiert alles und nicht nur Anzüge, Mäntel, Hemden oder andere Klassiker –, meinen Glückwunsch. Alle denjenigen, die sich noch nicht jedes Kleidungsstück schneidern lassen können, bleibt die Möglichkeit bei den großen Schneiderhäusern hochwertige Ready-To-Wear Ware zu kaufen und anzupassen. Der entscheidende Unterschied ist hierbei zu den fashion labels, dass diese Kleidung darauf angelegt ist, angepasst zu werden und so den Träger im perfekten Licht darstehen zu lassen. Die Nähte haben also Extrastoff und die Nähte sind für einen guten Änderungsschneider leicht zu öffnen und wieder zu schließen.

Das einzige Problem ist jetzt, dass man nicht nur diese Art von RTW-Schneiderware benötigt, sondern auch den dazugehörigen Qualitätsschneider, der das Vorhaben richtig in die Tat umsetzt. In Deutschland wurde der Markt leider mit Scharlatanen überschwemmt, die für 'nen Appel und 'nen Klicker Änderungen jeglicher Art anbieten. Der Deutsche findet dies toll, weil er spart ja Geld. Für alle diejenigen, die dieses – ich betone – Meisterhandwerk jahrelang bis zum Meisterbrief gelernt haben, ist es eine Ohrfeige und führt (bei mir) zu Kopfschütteln. Die Qualität der Buden ist teilweise sub omni canone und die hochwertige Kleidung wird zerstört– es sei erwähnt, das es auch auch positive Ausnahmen gibt. Deswegen mein Rat: Geben Sie die 20%-30% mehr aus! Warum?

  1. Sie kriegen vielfach bessere Qualität.
  2. Jedes Stück kann in mehreren Arten und Weisen an Sie angepasst werden, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Ein guter Schneider hat im Vergleich mehr Ideen und Vorschläge dies durchzuführen, ohne das Stück dabei zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen.
  3. Sie können eine jahrelange Beziehung zu Ihrer Schneiderin/Ihrem Schneider aufbauen und irgendwann brauchen Sie gar nichts mehr zu sagen, wenn Sie mit einem neuen Stück kommen.

Retailoring ist Wissen und Verstehen

Wenn wir diese beiden vorangegangen Schritte beachtet haben, kommen wir zum letzten Teil und den schwierigsten Schritt. Der Artikel heißt deshalb „Retailoring ist eine Kunst“, weil es in der Tat eine Kunst ist, den Wunsch des Kundens handwerklich korrekt umzusetzen, ohne dabei die Grundintention des ursprünglichen Schneiders zu vernachlässigen. Wenn nämlich dieser nicht gefolgt wird, sieht das Stück schlicht und einfach „umgeschneidert“ aus und dies fällt allen Beobachtern – wenn auch unterbewusst – sofort auf. Die Aufgabe des Künstlers ist also den ursprünglichen Schnitt des Schneiders zu verstehen und im Stile des Schneiders an den Kunden anzupassen. Das erfordert vor allem viel Wissen nicht nur über die einzelnen Länder oder Städte, sondern über jeden einzelnen Schneider. Ein Beispiel: Ein Anzug von Gieves & Hawkes von der Savile Row No. 1 mit seiner langen Militärgeschichte, folgt einem komplett anderen Stil und anderen Regeln als ein Anzug von Richard James von der Savile Row No. 29 oder wiederum Huntsman von der Savile Row No. 11. Diese Häuser liegen keine 50 Meter auseinander und dennoch muss ein guter Änderungsschneider die Unterschiede kennen. Viel zu oft musste ich schon sehen, wie hochqualitative Arbeit von Änderungsschneider mit falschen Stilelementen zerstört wurden. So wurde beispielsweise der englische Anzug mit italienischen Stilmerkmalen verziert. Ein Änderungsschneider restauriert also schlussendlich eher als dass er modisch experimentiert – wenn er gut ist. Am besten aber bildet sich der Kunde selbst weiter und liest Bücher, diesen oder einen anderen Blog oder geht auf die Londener, Pariser oder neapolitanischen Straßen und lernt mit dem Auge von den versierten Trägern.

Der Gentleman, der sich weiterbildet, kann dem Schneider besser vermitteln, was er möchte.
Der Gentleman, der sich weiterbildet, kann dem Schneider besser vermitteln, was er möchte.

Zusatzinformationen

Erstens, selbst maßgeschneiderte Klamotten haben Extrastoff an den Nähten und das liegt nicht daran, dass die Schneider sich nichts zutrauen. Gute Schneider denken langfristig und wissen, dass der Träger vielleicht mit schweren Zeiten zu kämpfen haben wird und der Körper sich dahingehend verändern könnte. In diesem Falle kann der Kunde aber wieder zu seinem Schneider gehen und das Kleidungsstück adjustieren lassen. Zweitens, diejenigen, die mich schon länger kennen, wissen, dass ich früher ebenfalls dem Modezirkus erlegen bin. Auf den Trichter meinen Kleiderschrank langfristig und wirtschaftlich intelligent einzurichten – mit anderen Worten in Qualität und zeitlosen Schnitt zu investieren – kam ich erst in den letzten Jahren... es ist also niemals zu spät sich Fehler einzugestehen und daraus zu lernen. MM

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