Wien wird nachgesagt, dass es voller Frühaufsteher sei. Einst regierte Franz Joseph I. die Stadt. Der Kaiser begann seine Tage stets morgens um halb vier. Diese Angewohnheit hatte schwerwiegende Folgen für seine Bediensteten, die – selbstverständlich – noch viel früher aufstehen mussten. Sie bereiteten sein Bad und seine Hygieneartikel vor und stellten sicher, dass alles fertig war, wenn der Kaiser geweckt wurde.
Franz Josephs Diener war keineswegs als Frühaufsteher bekannt. Er hatte große Schwierigkeiten, alles rechtzeitig zu erledigen. So entschloss er sich oftmals, die Nacht zu verlängern und blieb – mit einer Flasche Schnaps – auf. Der Schlafmangel des Dieners blieb den Überlieferungen zufolge jedoch nicht ohne Konsequenzen: Beim Versuch, dem alternden Kaiser in die Badewanne zu helfen, stürzte der Nachttrunkene wohl mehrfach selbst hinein.
Der Hausdiener hingegen hatte eine leichtere Aufgabe. Franz Joseph, der den Thron zu einer Zeit bestieg, als Europa von den Revolutionen des Jahres 1848 gebeutelt war, trug fast ausschließlich militärische Uniformen. Viele davon waren Geschenke von Regenten der angrenzenden Nationen. Sein Hausdiener behauptete, dass Franz Josephs Begeisterung für Uniformen so groß war, dass in seinem eigenen Besitz „kaum zwei gute Mäntel“ waren.
Darüber hinaus war zu dieser Zeit die Annahme verbreitet, dass sich die Berliner für besondere Anlässe in Uniformen kleideten, während in Wien black tie getragen wurde.
Das Frühaufstehen führte Franz Joseph ins Extrem, den besagten Wiener Dresscode mied er hingegen.
Angewohnheiten aus vergangenen Tagen lassen sich natürlich nicht einfach auf die Gegenwart übertragen. Aber während andere Städte versuchen, ihre vergangenen Tage aufrechtzuerhalten, indem einzelne Sträßchen und Viertel restauriert werden, erscheint mir Wien ganz anders zu ticken. Alte Gewohnheiten werden hier, in überraschendem Maße, gepflegt.
Nachdem ich in Wien angekommen war und in mein Hotel eingecheckt hatte, machte ich mich auf die Suche nach einem Kaffeehaus. Wer die Serie bereits seit längerem verfolgt, erinnert sich vielleicht, dass ich meine Vorliebe für Cafés bereits in Ein Amerikaner in Edinburgh anführte. Viele Wiener Kaffeehäuser gelten seit Jahrhunderten als Institutionen. Ich fühlte mich in ihrer Umgebung wie im Himmel. Die Kaffeekultur Wiens musste ich unbedingt kennenlernen.
Als erstes betrat ich das Café Hawelka. Vermutlich haben einige den Namen schon mal gehört. Trotz der zentralen Lage nahe des Stephansdoms waren, abgesehen von mir, erstaunlich wenige Touristen vor Ort. Dunkle Holzvertäfelungen, Messingverzierungen, Zeitschriften und geradezu krampfhaft-förmliche Angestellte machen das Hawelka zu einem Archetyp der Wiener Kaffeehauskultur.
In Umgebung einer solch luxuriösen Einrichtung musste ich sofort daran denken, was ich bei meinem Schneider für diesen Anlass bestellen würde. Die Atmosphäre eines Cafés an sich ist selbstverständlich eher zwanglos. Doch die Förmlichkeit des Hawelkas erfordert einen stilistischen Spagat. Ich würde einen einreihigen, navyfarbenen Anzug mit breiten, gut gepolsterten Schultern und einer ordentlichen Portion drape wählen. Ansonsten ist bei den Proportionen Zurückhaltung geboten: kein allzu breites Revers und keine ticket pockets. Die Knöpfe wären – entsprechend der Ivy-League-Klassiker – in einer 3-roll-2 Position angeordnet. Die Formalität des Anzugs würde ich durch ein weißes button-down Hemd abfangen, das einen breiten, weichen Kragen hätte. Dazu eine gestrickte, navyfarbene Krawatte und Loafer aus Cordovan.
Doch nicht nur die Wiener Kaffeehäuser konnten mich begeistern. Auch die ein oder andere Bar hinterließ einen bleibenden Eindruck. Loos American Bar hat es mir ganz besonders angetan. Die kleine Bar liegt mitten im Zentrum der Stadt. An dieser Stelle ein kurzer Exkurs: Jeder, der Interesse an der Schneiderei hat, sollte mit dem Namen Adolf Loos bereits vertraut sein. Mir war bislang jedoch nicht bewusst, dass auch die besagte Bar in Wien eine seiner Kreationen ist. Die Inneneinrichtung ist eine Augenweide aus hochglanzpoliertem Messing und Spiegeln, die das schummrig-gelbe Licht von allen Seiten reflektieren. Doch nicht nur das Interieur ist exzellent: Auch mein Drink – ein Sazerac, falls Sie es genau wissen möchten – war von hervorragender Qualität. Die gesamte Atmosphäre war, und hier trifft der Begriff ausnahmsweise tatsächlich zu, zeitlos. Die Szene hätte sich in jedem Jahr seit der Eröffnung im Jahr 1908 abspielen können.
So erschien es mir mehr als angemessen, dieses Erbe auch stilistisch aufzugreifen. Ich trug einen zweireihigen Anzug aus anthrazitfarbenem Fresco mit einem breiten Revers, weiten Schultern, einer schmalen Taille und weitgeschnittenen Hosenbeinen. Mit anderen Worten: ein smexy deco drape à la Max Mogg. Dazu ein weißes Hemd mit langem Kentkragen. Nicht ganz so lang wie der Zee Jerman, aber dennoch eindrucksvoll. Eine gestreifte Regimentskrawatte aus Seide und schwarze Oxfords rundeten den Look ab.
Das letzte Ziel meiner Reise brachte mich zu einer weiteren Institution Wiens: der Oper. Mir ist durchaus bewusst, dass ich für ein weitestgehend deutschsprachiges Publikum schreibe, weshalb es vielleicht keine gute Idee ist zuzugeben, dass ich keine besondere Begeisterung für die Oper habe. Einen gelegentlichen Besuch kann ich genießen – ein Enthusiast bin ich jedoch sicherlich nicht. Die Wiener Oper konnte ich mir dennoch auf keinen Fall entgehen lassen.
Für diesen Anlass kommt nichts außer black tie in Frage. Für mich ist es der Inbegriff von Eleganz. Nichts unterstreicht den Gesamteindruck besser als die reduzierten Farben und Linien der Abendgarderobe. Gleichzeitig begrenzt black tie auch die Auswahlmöglichkeiten – der Schnitt des Anzugs geriet hierdurch noch stärker in den Vordergrund. Ich bevorzuge deshalb einen zweireihigen Anzug mit Schalkragen und einer 4x1 Knopfanordnung. Ich würde den Knopf der unteren Reihe schließen. Auch hier sind weite Hosenbeine und ein leichter drape empfehlenswert. Gepaart mit einer schwarzen Schleife, schwarzen Oxfords aus Lackleder und silbernen Manschettenknöpfen, die ich vor kurzem auf einem Flohmarkt entdeckt habe: Die ideale Garderobe für eine Reise nach Wien. NWW/YS/JHS/MM