Mr Lush S4E3T2 - Vici, veni, vidi

Mr Lush S4E3T2 - Vici, veni, vidi

von MM I Manager Online

Surreal – so würde Thomas die Taxifahrt Olivier beschreiben. Gleich nachdem man Platz genommen und sich angeschnallt hatte, raste das Taxi los, als hätte man es samstagnachts so furchtbar eilig. Mafalda schien das alles nicht zu stören. Im Gegenteil, sie fühlte sich pudelwohl und unterhielt sich mit dem Taxifahrer, als würde man sich seit Jahrzehnten kennen. Ganz ungeniert wurde gefragt, ob man im Taxi rauchen dürfe, wenn man die Fenster öffnen würde, was nur mit einem „Ja, klar.“ beantwortet wurde. Während Mafalda also paffte und Lush sich im Fahrzeug festhielt – wie es sonst nur übervorsichtige Damen seines Alters tun –, fuhr man durch den Berliner Westen der Nacht. Vorbeirasend an kotzenden Homosexuellen, Schlägereien zwischen rivalisierenden Mädchenclans, pöbelnden Prostituierten und predigenden Obdachlosen wirkte das Leben auf Thomas einerseits leicht, andererseits erschreckend irrelevant. Menschliche Bindungen fühlten sich unwichtig und belanglos an; Versprechen der Nacht waren bestimmt am nächsten Tag vergessen oder wurden ignoriert, wissentlich, dass man eh eine gute Ausrede hätte. Die Sicherheit, die einem zwischenmenschliche Zuverlässigkeit gibt, schien in dieser Stadt nicht zu existieren; der biblische Free-Fall-Tower ohne Jesus und Anschnallgurt.

Eine schnelle Kurve und ein hartes Bremsen später wurde man gebeten, beim Aussteigen den Verkehr zu beachten, bevor man die Türen öffnete, und Mafalda versprach, schon gleich über ihre App Trinkgeld zu geben. Den Verkehr halb überlebt, musste man sich nur noch vor der Haubentaucherin mit eiskaltem Blick verbeugen, um durch die Tür der Bar „Vici, veni, vedi“ hineinzustolpern. Eine Schar an kellnernden Kolibris schwirrte durch die riesige Großraumbar; die Gäste stapelten sich, augenbrauenprovozierende Kunst hing an den Wänden, Musiklautstärke, die es jederzeit mit einem Kampfjet aufnehmen könnte, ein Getränkedurchlauf wie bei einem Marathon. Bilder, die Thomas wohl niemals vergessen würde. Von dieser Impression erst mal komplett geplättet, verpasste Lush fast, wie Mafalda gazellenhaft sich durch die rauchende, trinkende und brüllende Tier- und Menschmassen firmelte und mir-nichts-dir-nichts von einem der Hauptkolibris einen „reservierten“ Tisch zugewiesen bekam. Sie winkte den Helden in Black Tie freudig her – sichtlich zufrieden, dass sie ihn so mit dem ersten Eindruck und ihrer Performance von den Socken geholt hatte. Mr Lush, dem der ganze Mumbo-Jumbo dieses Ortes immer nicht ganz geheuer war, kämpfte sich mit alten Manieren halb selbstbewusst wankelnd, halb entschuldigend stürzend durch die Massen an Neuem Geld zum Tisch durch. Obwohl Lush im Gegensatz zu anderen englischen Alkoholikern nicht trank, um zu vergessen, sondern um die guten Nächte zu verlängern, merkte er mittlerweile, dass er heute Nacht ein Spiel spielte, wo man durch Eigentore siegt. Da quasi überall zwischen der Kunst Spiegel geschickt positioniert waren, fiel es ihm schwer, seine zunehmend nach Hologrammen aussehenden Augen zu ignorieren. Die Ausrede, dass er Vollwaise seit seinem 14. Lebensjahr war, war schon lange keine gute mehr, teilweise so dreinzuschauen. Das Gute an diesem Ort war, dass um diese Uhrzeit die High-Quality-People um ihn herum alle so aussahen und dementsprechend diese Eröffnungsszene einer BBC-Dokumentation über Überpopulation eigentlich nur musikalisch mit Billy Joels „… but it’s better than drinking alone.“ untermalt werden müsste.

Mafalda hatte schon beim Hauptkolibri für beide jeweils ein Glas Champagner und einen Espresso – es war schon irgendwie so spät geworden – bestellt, als sie sich kurz auf die Toilette verabschiedete. Lush hatte somit Zeit, sich einmal kurz zu sammeln, seine kommende Vorgehensweise zu durchdenken und gleichzeitig seine Umgebung zu studieren. Zunächst einmal fiel ihm die benachbarte Tischgruppe auf, die sich vor allen Dingen über ihr Parfüm „Benzin & verwesender Pennerfuß“ auszeichneten. Leviathan ließ grüßen, als ihm dann auffiel, dass im Grunde jeder Nachbartisch über das Thema „Individualität“ sprach und man sich gegenseitig konsequent – schwer trunken vom Heiligen Gral – in der Annahme bestätigte, dass man selbst der Allerindividuellste sei, bis halt die nächste verlorene kurzhaarige Seele im schwarzen Tanktop mit Radsportbrille die Bar betritt. „Naja – nicht jede Raupe wird ein Schmetterling“, dachte sich Lush, während er beeindruckt die Lebensartversteher in der langen Schlange zu den Waschräumen beobachtete – ob die alle wohl gleichzeitig pinkeln müssten? Die Marienstatue gegenüber von Lush nickte – so meinte Thomas zumindest. Der Espresso und der Anblick der zurückhüpfenden – ewig eleganten – Mafalda taten gut. Mafalda muss der Lieblingsgast der Bar sein. Alle zwei Momente wird sie von irgendwem gegrüßt und gedrückt, bekommt und erwidert Luftküsse oder zwinkert vor und zurück in der Frequenz eines Warzenschweins. Am Tisch angekommen, ließ sie sich auf ihren Platz plumpsen – auch schon gut trunken – und lächelte Lush an. Ein einfacher, unverschämter, unfairer und effektiver Trick aus der illegalen Doping-Trickkiste des unendlichen weiblichen Repertoires; wie ist man davor nur gefeit? Bleibt einem etwas anderes übrig, als verknallt zu stammeln?
„Du wolltest mich was fragen?“, sie kippte einen großen Schluck Champagner und schüttete mittlerweile kühlen Espresso hinterher. Bedeutungslose Gedanken sammelten sich in Lushs Kopf – ungeordnet, sinnfrei; keine einzig verwertbare Idee. „Es ist wahrscheinlich der richtige Zeitpunkt, ihr die Wahrheit zu sagen“, dachte sich Sir Promille. Als weltbekannter Romantiker war Lush doof genug, auf seinen eigenen trunkenen Rat zu hören.
„Mafalda, hat dir eigentlich die Nacht damals im Catoy gefallen?“ Da war’s raus. Er hat es gesagt, gefragt. Seine Befürchtungen, seine Angst, sich blamiert zu haben, übernahmen die Überhand in seinem sowieso schon überreizten System. Mit Eltern und einem Umfeld, wie Lush es hatte, ist es keine große Überraschung, dass Peinlichkeit seine vielleicht stärkste Emotion war. Wie konnte man nur meinen, eine solche Frage stellen zu können? Da fliegt er extra von London nach Berlin auf Mission und vermasselt es sich mitten in der Nacht auf den letzten Metern. Immer das Gleiche mit ihm: gesandt, aber nicht geschickt. Ewige Momente in der plötzlich luftleeren Bar quälten ihn und seine überteerte Lunge.
Sie lächelte – wieder dieser Trick – und schelmte: „Ich hatte schon schlimmere Nächte.“ Auf einmal wieder Luft in Lushs Lunge. Der – hundertprozentig – hochrote Kopf bekam wieder seine normale bleiche Farbe. Er lächelte zurück, atmete aus und sagte erleichtert: „Das freut mich sehr.“

„Du kommst öfters hierher, oder?“, er bemühte sich, jetzt erst mal wieder sicher zu fahren. „Ja, mein absoluter Lieblingsort. Du verstehst das als Londoner sicherlich nicht: Berlin und das Nachtleben sind unzertrennbar miteinander verwoben. Nur in den Nächten bekommst du die WIRKLICH interessanten Konversationen mit den WIRKLICH interessanten Menschen. Ein perfekter Spielplatz für ein Duracell-Häschen wie meiner einer. Trinken wir aus und gehen noch tanzen? Was dir jetzt am besten stünde, wäre eine kleine Sünde.“