Mr Lush S4E3T3 - Wer sich sorgt, versorgt niemanden
von MM I Manager Online
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Die Sünden wurden am nächsten Morgen sofort vom allmächtigen Baseballschläger bestraft: heftigste Postalkoholdepression. Was hatte er getan? Hatte er sich danebenbenommen? Thomas schleppte sich zum Spiegel:
Seine Augenlider so schwarz wie Traubensaft, die Haare zerzaust, die Haut blass wie die Alpina-Katze. Thomas Lush, Esq., sah aus wie ein Wrack – ganz zu schweigen davon, dass noch die Hälfte seines Smokings von seinem Leib hing. Jetzt die Preisfrage: zurück ins Bett oder den Tag mit Dusche, Zahnbürste, frischen Klamotten und Frühstück beginnen? Wie viel Uhr war es überhaupt? Für das Bett sprach, dass er darin heute wohl die besten suizidalen Träume seines Lebens haben würde.
Die kleine Sünde eskalierte schließlich zu mehreren musikalischen Nahtoderfahrungen.
Der Club – das Bergheim – lag natürlich am anderen Ende der Stadt. Also: noch eine halsbrecherische Fahrt mit einem geisteskranken Taxifahrer. Mafalda rauchte mit offenem Fenster, während Thomas nicht sicher war, ob er sein Gesicht noch fühlen konnte. Auf der Fahrt realisierte Lush, dass er mittlerweile die dritte Packung Zigaretten angebrochen hatte, und er jetzt langsam erst mal wirklich keine Lust auf einen weiteren Glimmstängel hätte – abgesehen davon, dass diese deutsch-österreichischen Zigaretten, die ihm im Kiosk als besonders toll verkauft wurden, wahnsinnig stark waren. Angekommen am Bergheim: Thomas traute seinen Hologramm-Augen kaum.
Eine kilometerlange Schlange von Lebensartverstehern, Pangolinen, Capybaras, Kiwis, Komodowaranen und Nacktmullen – alle in Schwarz und/oder Leder – mitten in der Nacht – eigentlich eher früh am Morgen - vor einem gigantischen Elektrizitätswerk, aus dem dumpfe, unregelmäßige Bässe dröhnten.
„Da wollen wir rein?“ – „Ja, mach Dir keine Sorgen; wir stehen auf der Gästeliste.“
Im Eilmarsch – warum eigentlich immer diese Eile in der Nacht?! – an der Schlange vorbei, von allen Kreaturen der Nacht beäugt, standen da besonders coole Pinguine mit Tattoos, Sonnenbrillen – weiß kein Mensch wieso – und Bomberjacken und verwalteten den Eintritt: „Heute nicht.“ oder einfaches Kopfschütteln. Der Berliner Masochismus, stundenlang in der Kälte zu stehen, nur um am Ende ein „Nein“ zu kassieren, war Thomas noch immer schleierhaft. Vorne angekommen, schob einer der Pinguine nach drei Minuten Schweigen die Sonnenbrille auf die Schnabelspitze:
„Name?“
„Mafalda Mondi … plus eins“, sagte Mafalda.
Kurze Suchaktion auf der Liste.
„Wer spielt denn heute, Mafalda?“
„Elefant Drückmann.“
„Na dann mal viel Spaß euch beiden!“
Alles wieder surreal. Gespräche wie zwischen zwei depressiven Robotern, die sich mit zynischem Humor wachhalten. Nachdem man bei der Drogenkontrolle gefühlt an jedem Körperteil angefasst wurde, durfte man die dafür nicht gefilzten Jacken, Hosen und Handtaschen dann mit reinnehmen – auch das war eine eigenartige Form der Masochismus.
Drinnen: das Adrenalin kickte Mr Lush jetzt wieder hellwach. Selten hatte er so einen Raum gesehen: harter Brutalismus im Strobo-Licht. „Die werden mich einen Lügner nennen, wenn ich denen das in London erzähle.“, dachte er sich. Nachdem die Garderobe abgegeben war, begab man sich die verchromten Treppen rauf zu den Tanzflächen; immer näher an das Strobolicht, das Ende des Tunnels, die unregelmäßig regelmäßigen Bässe. Auf der Tanzfläche herrschte eine Eklektik wie in einem Hühnerstall auf Panzerschokolade. Kaum abgelenkt von den halbnackten, ledernen Menschmassen, suchte Lush schnurstracks den Weg zur nächsten Treppe. Während sich alle um ihn herum zur Musik bewegten wie Lufttänzer vor Gebrauchtwagenhändlern – sie nannten es „tanzen“ –, gefiel er sich immer mehr in der Rolle, Teil eines Gesamtkunstwerks zu sein. Ein einzelner Wolf im Smoking, umzingelt von Schafen in Leder.
Noch bevor er die zweite Treppe erklommen hatte – ein nächster Dancefloor erwartete ihn; die Musik gedämpfter und auf der Tanzskala von 1 bis Atomkraftwerk eher eine sympathische 6 –, sah er Kiki und Kuku wild ihre Hälse um den kleinen Otter Peter schwingen. „Der Otter hat Rizz“, dachte sich Lush, während er schon freudestrahlend die nächste Bar erspäht hatte. Freudentänzelnd drehte er sich in Pirouetten zu den glückverheißenden Kampfkolibris des Bergheims. Die plötzliche gute Laune wurde selbstverständlich als Affront verstanden, und unser Held in Schwarz wurde für die nächsten 15 Minuten ignoriert und nicht bedient, obwohl kaum sonst wer auf einen Drink wartete. „Wo war eigentlich wieder Mafalda?!“, fragte sich der Held in Schwarz mit hochgezogenen Schultern – hauptsächlich, weil er nicht verstand, warum er nicht bedient wurde.
Die kurze gute Laune war dahin; er wurde Teil des kollektiven Minds der wabernden Atommüllmasse und begann zu tanzen wie ein Zombie. So gut anscheinend, dass Kiki und Kuku sich beschämt wegdrehten, als der kleine Otter Peter sie fragte, ob da hinten nicht ihr Ziehvater tanzen würde. Kaum zum 13. genau gleichklingenden Loop bewegt, zog ihm wer am Ohr – nicht fest, aber bestimmt. Mafalda. Sie war betrunken und hatte Spaß daran, jetzt den Helden in Schwarz mit nicht mehr hochgezogenen Schultern zu provozieren. Mr Lush fiel dabei ein, dass er sich gerne provozieren ließ – na ja, zumindest hatte er sich das Eton antrainiert. Sie zog ihn näher an sich ran und küsste ihn energisch auf die Lippen. Lush, dessen Körper und Geist gerade Turbokarussell fuhren, war wieder einmal in dieser Nacht in der – typisch männlichen – Situation, seine Emotionen weder zu kontrollieren noch frei zu lassen. Dekaden falscher Fremd- und Eigenerziehung behielten die Überhand, weswegen ihm postwendend schlecht wurde und er auf der Tanzfläche wie ein schicker, angeschossener Maulwurf mit dem dunklen Boden eins wurde.
Das war zumindest das, an das er sich noch mehr oder weniger erinnern konnte. Ob er seinen Auftrag erfüllt hatte? Keine Ahnung. Ob Mafalda ihm überhaupt die Schlüssel gegeben hatte? Keine Ahnung. Wie er nach Hause gekommen war? Keine Ahnung. Ob er sich jemals in den Griff kriegen würde? KEINE AHNUNG. Er fing an, wild durch die Suite mit dem herzförmigen Bett, dem schwarzen Satinbezug und der verspiegelten Decke zu rennen. Ungesunde Unruhe.