Wien... da denkt man zunächst einmal an die Wiener Klassik, an Sisi und Franz und vielleicht Falco. Unter Liebhabern steht die Stadt allerdings für etwas ganz Anderes: Schuhmacherei. Wien hatte - durch seinen Hofstaat begründet - immer schon eine Schwäche für hochwertige Konsumgüter und Handwerk. Der wahrscheinlich bekannteste Name unter den Maßschuhmachern ist Scheer. Das Unternehmen wird mittlerweile in der - sage und schreibe - siebten Generation von Markus Scheer geführt. Umso ehrfürchtiger betrat ich zunächst das Geschäft der Bräunergasse im 1. Wiener Quartier.
Die Geschichte von 7 Generationen
Begonnen hat alles Anfang des 19. Jahrhunderts. Johann Scheer, ältester Sohn einer Wiener Weinbauernfamilie brach mit der Tradition, den elterlichen Betrieb zu übernehmen und gründete 1816 eine Schuhmacherwerkstatt im 3. Wiener Bezirk.
Die zweite Generation Matthias perfektionierte das bestehende und verlagerte das Geschäft auf die Wollzeile 15.
Matthias’ Sohn Rudolf Scheer kam danach zum Zug. Seinen Einfluss kann man allein schon am Aushängeschild des Betriebs erkennen: Rudolf Scheer & Söhne. Rudolf, der in Paris gelernt hat, erkannte den mondänen Lebensstil in Wiens Innenstadt und siedelte das Unternehmen in die berühmte Bräunerstraße - die Straße der Schneider und Schuhmacher - um. Die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten: So gewann er 1873 die Goldene Medaille der Wiener Weltausstellung und wurde fünf Jahre später zum kaiserlich-königlichen Hoflieferanten erwählt.
Rudolfs Söhne – die vierte Generation - , Carl und Edmund, beteiligten sich am Unternehmen und nachdem Vater Rudolf das Geschäft verließ, wurden auch sie 1906 Hoflieferant – was nicht selbstverständlich ist. Sie vergrößerten und modernisierten die Räumlichkeiten und wurden mit florierendem Geschäft belohnt. Auguste, Carls Frau, übernahm die Leitung des Unternehmens 1926, da sowohl ihr Mann als auch dessen Bruder innerhalb kurzer Zeit starben. Auguste führte das Geschäft bis die Führung auf ihren Sohn Carl Ferdinand 1935 überging.
Die fünfte Generation hatte anfangs in große Fußstapfen zu treten. Mit dem Gewinn der Goldmedaille bei der Weltausstellung 1937 in Paris, waren aber auch die letzten Zweifler verstummt. Was Carl Ferdinand besonders auszeichnete, war nicht nur das Design und die Schönheit, sondern die Integration von Orthopädie in den Maßschuhbereich. Ein Schuh bei Scheer sollte nicht nur schön, sondern auch bequem und gesund sein. Auch für die Fortführung des Familienerbes war gesorgt: alle drei Töchter engagierten sich im Unternehmen und schlossen die Gesellenprüfung ab.
Es sollte aber in der 6. Generation die jüngste Tochter, Michaela, sein, die den Weg des Hauses bestimmen sollte. Doch die Liebe verkomplizierte den Fortbestand des Unternehmens. Michaela zog Mitte der 80er ins Ausland, Carl Ferdinand übernahm wieder.
Die siebte Generation, Markus, zeigte sein Talent als Kind bereits im Werkunterricht: Der Enkel Carl Ferdinands baute für seinen Großvater einen ledernen Koffer. Der Großvater erkannte das Talent seines Enkels, förderte ihn bis zum Abschluss der orthopädischen Schuhmachermeisterausbildung und führte Seite an Seite bis 2011 das Unternehmen mit ihm. Markus steht fortan an der Spitze des Unternehmens und führt es in die Zukunft.
Ein traditionelles Haus in der Moderne
Als ich die Schwelle ins Schuhreich Scheer überschritt, erlebte ich eine Atmosphäre, die ich so von einem Schuhmacher noch nicht kannte: Markus Scheer spielt gekonnt mit Tradition und Moderne. Man nimmt die Geschichte ständig wahr, ohne aber das Gefühl zu haben, sich alle zwei Minute den Staub von der Schulter klopfen zu müssen. Die Inneneinrichtung ist elegant modern und dennoch traditionell wienerisch. Im Schaufenster präsentiert das Haus handwerklich großartige Klassiker in innovativen Ledern und teilweise auch Farben. Neben der Schuhmacherei wurde unter Markus’ Leitung neben der Schuhmacherei eine andere alte Tradition wiederbelebt: Scheer beherbergt eine Taschnerei, die mit sehr viel Liebe zum Detail und Gefühl für Ästhetik Koffer, Taschen, Gürtel und kleine Accessoires auf Maß oder direkt schon zum Mitnehmen anbietet. Im Gedächtnis ist mir ein kleinformatiger feuerroter Aktenkoffer mit goldenen Verschlüssen geblieben: Den müssen Sie sich unbedingt vor Ort ansehen... oder kaufen.
Ein besonderes Augenmerk gilt dem Keller. Unter Markus’ Leitung wurde dieser vorher für die Außenwelt unzugängliche Keller renoviert und dient als feierliches Esszimmer. An der Stirnseite werden Schuhmodelle berühmter Persönlichkeiten gezeigt, während eine majestätische Tafel in der Mitte des Raumes thront. Für den Interessierten eröffnen sich hinter den Türen auch noch ein kleines Schuhmuseum, das Modelle der alte Wiener Schuhkunst aus den verschiedensten Zeiten zeigt.
Abschließend ist folgendes festzuhalten: Scheer verkörpert Wiener Charme und prägt durch seine Kombination von moderner, hochwertiger Klassik, das Bild eines Wiener Gentleman. Also denken Sie bei Ihrem nächsten Besuch nicht nur an den Stephansdom oder das Riesenrad, sondern statten Sie mal der Bräunerstraße einen Besuch ab: Sie werden nicht enttäuscht werden.
Zusatzinformationen
Erstens, die einzigen beiden Ur-Wiener Unternehmen, die auf der Bräunerstraße bis heute überlebt haben, sind der Herrenschneider Knize und Scheer. Zweitens, bei Scheer wartet man drei bis sechs Monate auf sein Paar Schuhe. Zeit, die nicht besser investiert sein könnte, wenn man reine Handarbeit zu schätzen weiß. Letzens, Kaiser Franz Josef war Kunde des Hauses. Seine Leisten werden immer noch von Scheer wie ein Augapfel gehütet und auch heute sind Schuhe von Scheer die beste Wahl für den Kaiser in Ihnen. MM