S1E10 - Der Durst nach Zivilisation

S1E10 - Der Durst nach Zivilisation

Geposted von admin am

Ozelot Olivier und Mr Lush sind nach einigen Gläsern Champagner auf Kosten der Hotelierkatze auf der Suche nach einem Café in der Londoner Innenstadt.  Einziges Kriterium ist: Es gibt nichts To-Go und es regiert die Entspanntheit.  Vor Lushs und Oliviers geistigen Augen sitzen Damen und Herren weder mit Armbanduhren, sonstigen Zeitanzeigern noch Kopfhörern vor Tageszeitungen – wenn alleine – mit koffeinhaltigen Heißgetränken aus handbemalten Porzellan oder - man mag es sich kaum vorstellen - reden sogar mit einander.  Es sollte ein Ort der Gesellschaft sein, nicht einer der Arbeit und der Einsamkeit.  Dass man so etwas in London nicht findet, ist den beiden leider auch klar.  Es fehlt an rigorosen Kaffeehausbesitzern, denken beide.  Doch was soll man diesen vorwerfen?  Aufgrund der astronomischen Mieten scheint den Eigentümern nichts anderes übrig zu bleiben, als dem immer gierigen Verlangen der Stadt nach Arbeit, Geld und Zeit nachzugeben, um zu überleben.

Unverfroren und ohne Erfolgsaussichten begeben sie sich dennoch auf die Odyssee.  Es fallen ihnen zwei Arten von Monstern auf: Die einen in schlechtsitzenden Anzügen, die ihr Mobiltelefon ans Ohr pressen und sich durch den Urwald an Menschen auf dem Bürgersteig Richtung Stadtmitte rempeln – auch an diesem Samstag.  Die anderen, die - wie Zombies – an jedem Schaufenster stehenbleiben und in ihr Portemonnaie schauen, ob es denn dafür reicht.  Wenn es nicht passt, gehen sie zum nächsten und wiederholen den Vorgang.  Es ist als ob das Geld in der Tasche wehtun würde.  Die dritte Gruppe, die sie klar identifizieren können, sind keine Monster.  Es sind die, die sich komplett von dem Rattenrennen ausgeklinkt haben und mit Schildern auf den Parkbänken und Bürgersteigen dieser Stadt um Verzeihung flehen, weil sie nicht mehr mitspielen wollen.

Der Nebel um die Ursache der seltsamen Benommenheit, die sie anfangs dem prickelnden Alkohol zugeschrieben haben, lichtet sich immer mehr.  Kein Wunder, dass sich kein Londoner am Wochenende in London mehr aufhalten möchte.  Diese Stadt macht krank, sie verdirbt Charaktere und verdrängt Zivilisation.  Nirgends auch nur der Hauch der Wertschätzung von Lebensqualität.  Der Mensch als Maschine, als Sklave seines eigens kreierten Systems.

In einer Seitenstraße eines großen Boulevards nehmen die beiden neben einem kleinem Baum Platz, atmen tief ein, atmen lange aus und schweigen für gute fünf Minuten.  Als sie ihre Blicke aufrichten, bemerken sie, dass rechts von ihnen ein roter, antiquarischer Bücherhandel strahlt.  Eine entzückende Dame – allen Anschein nach die Eigentümerin – wartet auf der kleinen Straße vor ihrem Ladenlokal.  Mit Pariser Eleganz pafft die Frau in ihren besten Jahren bedachtsam eine schmale Zigarette, während sie in einem Werk von Evelyn Waugh versinkt.  Ozelot und Mr Lush tapsen vorsichtig heran, möchten sie doch die Szenerie nicht aufschrecken und damit zerstören.  Als sie einen adäquaten Abstand für einen Dialog erreicht haben, räuspert sich Olivier einmal kurz und beginnt:

Guten Tag, die Dame! Entschuldigen Sie, dass wir Sie unterbrechen, aber wir haben ein Anliegen und ich möchte mich kurz fassen:  Wir leben derzeit von meinem Körper!  Gibt es eine Möglichkeit, dass wir beide bei Ihnen arbeiten können?

Die Dame im anthrazitfarbenen Rollkragenpullover blickt auf, mustert kurz, lächelt und antwortet mit einer engelsgleichen Stimme:

Das klingt nach einem verführerischen Angebot.  Als wäre es Schicksal.  Ich bin heute aufgestanden und habe gesagt: „Das wird mein letzter Tag als Buchhändlerin!“  Möchten Sie die Details bei einem Kaffee besprechen.  Um die Ecke ist ein kleines, nettes, ruhiges, verstecktes Kaffeehaus. MM

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