Silver Screen Revisited: Martin von Essenbeck (The Damned, 1969)

Silver Screen Revisited: Martin von Essenbeck (The Damned, 1969)

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Ein greller Scheinwerferspot fällt auf die Bühne und erhellt das Gesicht von Martin von Essenbeck, gespielt von Helmut Berger.  Anlässlich des Geburtstags seines Großvaters Joachim von Essenbeck verkleidet sich Martin von Essenbeck als Transvestit, angelehnt an Marlene Dietrich in "Der Blaue Engel", und singt seinem Großvater, der verzweifelt  in Zeiten des frühen Nationalsozialismus einen Nachfolger für sein Stahlimperium sucht - mit der überzogenen Geste und Mimik einer Diva - ein Ständchen, was diesem so gar nicht gefällt:

Frühling kommt, der Sperling piept, 

Duft aus Blütenkelchen! Bin in einen Mann verliebt und weiß nicht, in welchen!

Ob er Geld hat, ist mir gleich, denn mich macht die Liebe reich!

Kinder, heute Abend, da such ich mir was aus

einen Mann, einen richtigen Mann!

Kinder, die Jungs häng'n mir schon zum Halse raus, einen Mann, einen richtigen Mann! Einen Mann, dem das Herze noch in Lieb' erglüht, einen Mann, dem das Feuer aus den Augen sprüht!

Kurz: einen Mann, der noch küssen will und kann, einen Mann, einen richtigen Mann!

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(Für diejenigen, die mitsingen möchten.)

Kaum ein Film war so umstritten wie dieser.  Der Regisseur Lucchino Visconti musste herbe Kritik dafür einstecken, ein so brisantes Thema wie den Nationalsozialmus in diesem Melodrama zu verarbeiten.  Der Film erhielt trotz aller Kritik eine Oscar-Nominierung für das beste Drehbuch.   Für uns spielt das alles eine sekundäre Rolle:  Wir beschäftigen uns mit dem Kostüm des opulenten Films und sind fasziniert von den Anzügen und Kombinationen des tragischen und moralisch verwerflichen Martin von Essenbeck.

Beschreibung des filmischen Charakters

Helmut Berger spielt in seiner ersten Rolle unter Visconti Martin von Essenbeck, der - bei Lichte betrachtet - nichts anderes als ein verantwortungsunfähiges, launisches, sexuell desorientiertes, kurzum eher unsympathisches Muttersöhnchen aus dem Industrieadel der Essenbecks - der Film ist voller Anspielungen auf die Krupp-Dynastie aus "Essen" - ist.     Durch eine von Rache motivierte Vergewaltigung seiner eigenen Mutter befreit er sich von den dominanten Klauen dieser.  Auch Kinder sind Opfer dieses absoluten Scheusals.  Eines der jungen Mädchen - das Kind der Nachbarin seines innerstädtischen Apartments -  "erhängt" sich.  Ohne zu viel von der Handlung verraten zu wollen, wird der degenerierte Emporkömmling des Geldadels aus dem Ruhrgebiet von vielen Charakteren für ihre jeweiligen Machtwecke missbraucht.  Schlichtweg Martin von Essenbeck provoziert den Zuschauer und ist ein Objekt des Hasses.

Unterstreichung des Charakters durch Kostüm

Dass Lucchino Visconti, der selbst einem uralten Mailänder Adelsgeschlecht entsprang, als Perfektionist im Detail gilt, ist für Filmkenner bekannt ... und so lässt sich auch in den Verdammten der Regisseur nicht lumpen und lässt seine Schauspieler durch fantastisches Kostüm brillieren. Überall exzellent geschnittene Maßanzüge, -hemden und -schuhe.  Eine derart bahnbrechend gute, non-verbale Darstellung der Ästhetik der dekadenten Oberschicht habe ich so kein zweites Mal gesehen.  Martin von Essenbeck trägt nebst oben genanntem Kostüm, militärisch scharf geschnittene, herb konservative Anzüge.  Eine längst vergessene, deutsche Linie lässt sich in den Anzugschnitten gut erkennen.  Ob im dunkelgrauen Doppelreiher mit weißem Hemd und dunkler Krawatte, im Abendanzug, in einer Kombination aus Flannelhose und Houndstooth-Jacket oder in Morgenrobe, Martin von Essenbeck sieht immer vortrefflich aus - und der androgyne Helmut Berger macht seinem Ruf des prototypischen Abbilds eines erotomanen Gottes der Eleganz alle Ehre. Gute, Etikett-konforme Kleidung ist für von Essenbeck selbstverständlich und er versprüht bewusst auch durch sie eine Macht der Überlegenheit.  Das Kostüm und die Maske schaffen durch die messerscharfen Silhouette, Überkorrektheit der Kleidung und viel Pomade und Schminke um Martin von Essenbeck eine atmosphärische Wolke der konservativen Erhabenheit und menschenverachtenden Arroganz.

Ist ein solches Bild heute abbildbar?

Ja.  Wenn wir diese Rolle einkleiden würden, würden wir einen schmal geschnittenen, dunkelgrauen, nahezu schwarzen einknöpfigen Dreiteiler vorschlagen.  Erzkonservative Schnitte und stilistische Details sind zielführend.  Die Hose hätte vermutlich eine schmale Linie, keine Bundfalten und einen angeschrägten Hosenabschluss.  Die Strümpfe wären in Hosenfarbe.  Die Spitze der Oxfords auf Hochglanz poliert.  Das eierschalfarbene Hemd besticht durch einen schmalen, wenn auch nicht engen Schnitt mit dezentem, dennoch eindrucksvollen Kentkragen.  Die dunkle Krawatte wird schmal gebunden und das Einstecktuch wäre aus eierschalfarbenem Leinen.  Die Weste schließt hoch und die Jacke ist millimetergenau auf Taille geschnitten.  Das Revers wäre mittelmäßig breit und die Schulter besticht durch klassisch englische Eleganz.  Das Ergebnis: eine schöne Silhouette, die einen schaudern lässt. MM/JHS

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