Via Pony Express an Mr Lush, City of Westminster

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Coûteux Lush,

haben Sie Dank für Ihr Handschreiben. Aus Ihren Zeilen entnehme ich, dass Sie melancholischer Stimmung sind und verflossenen Lieben und Gelegenheiten nachhängen. Dazu ein kleine Prise Ennui.

Un enfant humain pauvre. Daher möchte ich Sie heute mit Lebertran stärken. Aber zuvor verabsäume ich nicht, Ihre Frage zu beantworten, wann die Katze denn nun endlich wieder die Felsen von Dover anfauchen wird. Nun, die Stimmung in dear old England ist ja nicht leicht zu ertragen in dieser Zeit. Auch möchte ich die Gelegenheit nutzen, – bevor dienstbeflissene Beamte an der Grenze nach Passport und Visum fragen und mich nach Konterbande durchsuchen – die Nase in den Wind zu halten. Denn wie Sie ja wissen, hat der Struwwelpeter in der Downing Street uns eine ganz zauberhafte Situation geschaffen. Reisen wie unter dem Zepter von Victoria: Formulare, Fragen und – nicht zu vergessen – Stempelgeld bevor auch nur eine Tatze auf den Kontinent gelangt. Ja, ich weiß, die Engländer lieben es, in der Schlange zu stehen. Dieser Wunsch wird nun erfüllt. Daher werde ich noch eine kleine Zeit lustwandeln und Ihnen schreiben.

Aber nun zum Lebertran. Wie Sie ja wissen, bin ich in Ferney angelangt. Heute Morgen war mein erster Gang zum Schloss von Voltaire. Ja, das Rokoko-Schloss. Die Räume sind spielerisch, ornamental und alles ist mit einem Rankenwerk von Flechten, Muscheln und Schlinggewächsen überwuchert. Dazu die Farbgebung: hier ein sterbendes Blau, dort ein zart glühendes Rosa, dass das Ende eines Tages ankündigt. Neue Farbreflexe: Honiggelb, Teegrün, Blassrot und ein Tupfer Violett. Dazu die Möbel: Nichts ist jupiterhaft oder gar minimalistisch. Es gibt bequeme Polsterstühle und mit Seidenkissen bedeckte Kanapees zum Ruhen und träumen sowie kleine Miniaturtische mit zarten Leisten aus Gold – oder besser noch aus Silber. Das ganze aus delikaten Materialen wie Rosen-, Veilchen-, oder Tulpenholz; von Meisterhand gemacht. Schreibtische mit Geheimfächern für die Liebesbriefe. Eine Atmosphäre des Genusses und des Behagens aber nie gemütlich. Was für eine Ergötzlichkeit. Der Gesamteindruck ist witzig, kokett, feinschmeckerisch, plaudernd – gar ein wenig komödiantisch. Wie der Hausherr, der immer vielsagend lächelte, aber selten eindeutig lachend sein Gegenüber in Erstaunen versetzte. Seigneur Voltaire, Dichter dessen Gedichte heute so ungenießbar sind wie seine Theaterstücke, aber das glänzend formuliert. Seine Größe und seinen Mut findet ein jeder in seinen historischen und philosophischen Schriften. Zum ersten Mal in der Neuzeit beschrieb er nicht langwierige und langweilige Feldzüge, Staatsaktionen und Hofintrigen, sondern die Kultur und Sitten der Völker. Das feine und zarte Gefüge von Kultur und Civilisation stand Ihm vor Auge als er das Zeitalter Louis XIV. beschrieb. Die erste Kulturgeschichte.

Glänzend wie er sich für die Freiheit des Individuums von Staat und Kirche einsetzte, wie er Menschen, die unschuldig im Kerker einsaßen zur Seite sprang, wie er einer ganzen ländlichen Region um Ferney durch sein wirtschaftliches Handeln Lohn, Brot und ein Leben schenkte.

Er sprach von sich: „Ich bin schmiegsam wie ein Aal, lebendig wie eine Eidechse und unermüdlich wie ein Eichhörnchen“. Das spricht uns doch aus dem Herzen, Lush! Ich würde noch weiter gehen und ihn einen Zitterrochen nennen, der bei der leichtesten Berührung einen Hagel lähmender Schläge austeilt, voll aufgespeicherter Energie. Und dies bis zum Ende seiner Tage auf diesem Erdenrund. Dabei war er ein großzügiger Gastgeber und Freund.

Es mag sein, wenn Sie einen Text von Ihm lesen, dass sein Stil Ihnen nicht zusagt. Aber für uns Heutige ist bereits seine Haltung zum Leben Stecken und Stab, um die Lustmörder an der Wahrheit und die Bußprediger, die die nächste göttliche Strafe auf uns herunter wünschen in die Löcher zurückzutreiben, aus denen diese gekrochen sind. Daher lesen Sie die Biographie von Jean Orieux zum Leben von Voltaire.

Ihre dunklen Wolken der Melancholie werden zerteilt durch die Kraft und Herrlichkeit der Sonne französischer Brillanz und Nüchternheit. Da bekommen sogar die Worte „Heil dir im Siegerkranz“ neue Flügel.

Ihnen, lieber Lush, Mut und Haltung an jedem Ort der Ungewissheit.

Ihr Ozelot

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