Dear friend Lush,
was für eine Freude, Ihre Zeilen in den Händen zu haben. Wie ich aus Ihrem Brief entnehme, hat Flavio seine Kolombine ins Nest geführt. Nun wünschen wir dem Bräutigam Nerven, denn eine Ehe kann doch sehr karnifflig sein.
Ja, diese Nacht bei Küsnacht wird mir noch einige Zeit in guter Erinnerung bleiben. Ich kann Ihre Verwunderung gut verstehen, dass gerade in der wohlgesetzten und dickfälligen Schweiz dies zu beobachten war.
Ich möchte jedoch in keinem Fall verabsäumen, Ihnen auch den zweiten Teil des Abends zu schildern. Nach dem Allegro war auch ein Andantino zu bewundern. Denn als mir der ganze Trubel und die Aufregung ein Stück zu viel wurde, suchte ich einen Raum, um zu verschnaufen und fand die Bibliothek. Es brannten ein oder zwei Tischleuchten und im Raum stand der Geruch einer Zigarre. Ein Herr saß in einem Sessel und schaute leicht indigniert ob der Störung seines Sanktuariums. Um der Höflichkeit die Ehre zu erweisen, bot er mir einen Platz an, den ich mit einem leichten Nicken annahm. Schweigen.
Für mich die Gelegenheit, den Herrn ein wenig zu studieren, der freundlicherweise seine Augen schloss und genüsslich seine Rauchware inhalierte. Nun wenn ich jetzt so ein wenig in mich gehe, erinnerte mich der Herr an den sturen Vetter von Charles Ryder – ich glaube, er heißt Jasper und ist ein Pedant der ersten Ordnung. Tatsächlich entströmte meinem Gegenüber das Fluidum der Ödnis und Langeweile. Um den Mund fehlte jeder Ansatz einer Lachfalte, und die Lippen so schmal wie Schießscharten. Plötzlich war auch Mündungsfeuer daraus zu gegenwärtigen. Mit geschlossenen Augen fragte er, welches müde Schicksal mich an dieses Gestade geworfen hätte. Nun, ich sagte ihm, dass ich auf der Durchreise zu den Teutonen sei. Als er dies hörte öffneten sich seine Augenlieder langsam wie Markisen: "Ein bestimmtes Ziel?" "Nun, nach München", repetierte ich. Schweigen.
Gehören Sie auch zu denen, die den Worten von Schriftstellern Glauben schenken? Eines dieser Individuen hat doch zu dieser Ansammlung von Menschen und Häusern von der Perspektivenschönheit gesprochen. Nein, er ging noch weiter und behauptete, dass München leuchten würde. Wenn ich mich recht erinnere, dann meinte dieser Herr Autor doch, dass über den festlichen Plätzen und weißen Tempeln, den Barockkirchen, und den ach so gemütlichen Bauern- und Gartenanlagen sich ein strahlender, blauer Himmel spannen würde. Wie aus blauer Seide. Fehlte nur noch, dass die Gemütlichkeit und Wurschtigkeit ein Zeichen von Tugend seien.
Dies sind ja recht persönliche und muntere Vermutungen, aber wie konnte dieser Autor das alles sagen, wenn er gleichzeitig den abgestandenen, sauren Biergeruch in der Nase hatte? Ja, diese Perspektivenschönheit! Da hatten die Marketingfrevler Ihre helle Freude daran. Aber ist München nicht vielmehr ein kunstgewerbliches Dauerkostümfest? Die höchste Ausprägung dieses Zustands findet ein jeder auf der Wiesen. Da ist nichts anderes, als die schmatzende Sorglosigkeit eines saftigen, behaglichen und angenehm-nach-der-letzten-Mode-dekorierten Lebens zu finden. Wie viele edle Gedanken sind in diesem bajuwarischen Biersumpf verdampft? Wie viele herrliche und verheißungsvolle Leben gingen in der stagnierenden Pfütze dieses Spießbürgertums – in der Öde des Schranzentums – würdelos zu Grunde? Es ist der Glanz um die menschliche Verehrung für den angepassten Menschen, die alle guten Triebe im Keim tötet. Ich weine an den Ufern der Isa um dich Mensch. Damit endet der Beschuss des Herren.
Ach herrje, nach Bacchus ein Savonarola schoss mir durch den Kopf. Nun wurden die Markisen langsam herabgelassen und das Schweigen ergriff den Raum. Leichtes Atmen und stilles Dösen.
Lieber Lush, was soll ich nun glauben? Darf ich Glauben? Ist die Welt die beste aller Welten, oder soll ich lieber mit Hiob sprechen? Um diese Gedanken zu zerstreuen, greife ich gern zu unserem Erzfreund Voltaire und seinem Candide oder der Optimismus.
Good night and good luck,
from the cat with doubts, Ozelot.