Lush kippelt wie ein kleiner Junge auf seinem Barhocker in der unterirdischen Bar Zum Flamingo. Flavio meint es heute gut mit ihm und hat ihm als Offizier der Infanterie der Kolibris eine Flasche Molliger auf's Haus hingestellt. Lush ist ein gern gesehener Gast – der erste Mensch, der für die abtrünnigen Tiere, unter Gefährdung seiner eigenen Gesundheit, in den Kampf gezogen war. Seit jeher flattert Flavio immerzu an den Tresen und stößt kurz mit ihm an – und erzählt alte Geschichten als er noch ein junger Kolibri war.
Lush genießt den lauwarmen Londoner Samstagabend: Der Ozelot hatte sich als Babysitter für die beiden Zibraffen angeboten und Lush fühlt sich nach seinen Eskapaden in Paris und der Balkonparty im Untergrund deutlich wohler als unter Menschen. Die gesamte Situation erinnert ihn an eine Szene in Eton, als ihn sein Literaturlehrer vergeblich beim Nachsitzen in den Sommerferien suchte und Lush sich im verstaubten Keller eines ortsbekannten Antiquariats versteckt hielt. Der gebrechliche Eigentümer hatte ein Faible für den ästhetisch begeisterungsfähigen Faulenzer Lush – doch Lush hatte kein Faible für die wohl einzige Nahrung des Eigentümers: Käsebrote. Lush entließ sich selbst, vielmals dankend, aus seinem Versteck. Wenig später verstarb der Eigentümer, was Lush auf die einseitige Ernährung zurückführte.
Lushs Tagträume werden von der knallenden Bartür unterbrochen. Der Wellensittichtürsteher wurde nach seinem tragischen Tod beim Überfall durch den Löwen Eduardo Gorgonzoles – kurz Ed – aus Pietätsgründen noch nicht ersetzt. Somit kann so ziemlich jeder, der die Bar kennt, rein und raus spazieren... und wird im Zweifel dann später oder binnen weniger Momente von Flavio wieder der Bar verwiesen – "Sie haben sich wohl in der Tür geirrt." Lushs Blick fixiert ebenjene Tür, die sich gerade öffnet – irgendetwas sagt ihm, dass das bei seinem derzeitigen Glück nichts Gutes heißt. Eine gut gebaute, mitteljunge, dunkelblonde Frau in einem kurzen roten Kleid mit Poserausschnitt betritt die Bar und schreitet bedrohlich langsam und erfolgssicher mit ihren hohen roten Schuhen in Richtung Lush. Ihre kleine schwarze Handtasche aus Eidechse, natürlich von Kanel, schwingt sie dabei wie einen Morgenstern – das Innere der Tasche wirkt ähnlich schwer. Die mit Klunkern behangenen Eidechsenwitwen, die champagnerschlürfend hinten an ihrem Samstagsnachmittagsstammtisch sitzen, flüstern sich zu: "Ich glaube, das ist mein Ex-Mann! Armer Karl! Einen etwas schöneren Abgang hätte ich ihm dann doch gewünscht!"
Lush kannte die Dame – doch er wusste nicht woher. Es dämmerte ihm langsam, dass er diese Person zuletzt in seinen Zeiten als Wochenendstreuner im Londoner Westend gesehen hatte. Lush, damals schon nicht mehr der jüngste, hatte in jener Zeit das perfekte Alter, um den erfahrenen, mittelerfolgreichen, aber dennoch vor altem Geld triefenden Playboy zu spielen. Natürlich war das alles nichts als Maskerade; doch sie funktionierte hervorragend. Der hauptsächlich als Egopush angelegte Plan wurde mit einem bekannten und gut vernetzten Restauranteigentümer geschmiedet – um genau zu sein: Lush trat mit dem Plan an ihn heran und er willigte ein. Lush ist sich im Nachhinein sicher, dass dessen Hauptmotiv wahrscheinlich nichts anderes als Mitleid war. Jedenfalls machte der Restauranteigentümer Lush den Intro am örtlichen Bartresen und Lush lud die Damen zu teurem Champagner und groß angelegtem Essen im Restaurant ein. Man verstand sich für gewöhnlich fantastisch, bis Lush sich stets vor Nachtisch 'kurz' entschuldigte und über das Toilettenfenster ins Freie floh – natürlich ohne zu zahlen. Der Chefkellner war darauf dressiert, circa 20 Minuten nach Lushs Entschwinden, an den Tisch zu treten und ihn zu entschuldigen. "Der Herr ließ uns mitteilen, er seie für die nächsten Stunden nicht mehr gesellschaftsfähig. Ihm ist es wahnsinnig peinlich und er bittet, dies zu entschuldigen. Wir sind leider gezwungen, Ihnen die volle Rechnung anzuvertrauen. Gerne können Sie uns Ihren Kontakt hinterlassen und wir geben es an den Herrn weiter, so dass sie beiden jegliche finanziellen Ungereimtheiten unter sich ausmachen können. Verzeihen Sie bitte vielmals!" Die Frauen zahlten voll und Lush meldete sich nie. Nicht seine rühmlichsten Zeiten – das gibt er zu.
"Hab' ich Dich!", sagt die Dame, zieht den Stuhl zurecht und setzt sich. Kurz, ohne das Barpersonal zu begrüßen, hebt sie den Finger und zeigt dann auf die quasi leere Champagnerflöte von Lush. Man verstand: Eine weitere Flöte für die Dame wurde von den Kolibris hergeflogen.
Lush, dem die Situation zunehmend unangenehm wird – er kippelt stärker und stärker auf seinem Hocker –, hat sich in der Zwischenzeit schon nach Notausgängen und ähnlichem umgeschaut. Doch auch nach dem letzten Erlebnis in dieser Bar mit dem Löwen Ed hat Flavio nichts dazugelernt und keinen Notausgang hinzugefügt. Lush nimmt einen großen Schluck Champagner und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Verzweifelt sucht er nach Blickkontakt mit Flavio und hofft, dass er ihn dazu bewegen kann, auf den roten Knopf unterhalb der Bar zu drücken: So würde ein direktes Alarmsignal an den Ozelot ausgesendet werden. Kein Blickkontakt gefunden; Lush bleibt nichts anderes übrig, als sich zu räuspern und eine Entschuldigungstaktik vorzubereiten:
"... H(e)m ... ich freue mich so sehr, Sie zu sehen ... wissen Sie, es tut mir schrecklich lei..." Den Satz noch nicht ganz beendet unterbricht sie ihn – auch sie hatte bereits einen großen Schluck Molliger runtergekippt.
"... Spar Dir Deine Luft. Man hört so einiges über Dich und Deine Fähigkeiten, Lush. ... Ich mach es kurz: Wir brauchen Deine Hilfe bei etwas – ... wir zahlen auch kräftig."
Mr Lush fällt rücklings vom Stuhl. MM/YS/EG