Die Truppe an Tieren rennt um ihr Leben. Die Hintertür führte durch die Barküche und dann eine weitere Tür in die Katakomben Londons. Keiner ist zu halten. Der hohe Puls und das absurde Niveau an Adrenalin schwängern die Luft mit mehr als einem Hauch des Todes – vielleicht spielt der unerträgliche Gestank der dunklen Abwasserkanäle auch eine nicht ganz unerhebliche Rolle. Eine Gazelle rennt jedenfalls rasant mit einer Taschenlampe, die sie sich zwischen die Hörner geklemmt hat, vor. Lush stolpert halb rennend und halb Atem holend hinterher. Ein komplett verängstigter Lemur klammert sich an seiner Schulter fest. Das letzte Mal – daran erinnerte er sich genau – ist er in diesem Tempo zu Turndown & Asshair gerannt, um die letzte Krawatte in flieder zu ergattern. Der Ozelot rennt treu und cool in Lushs Tempo neben ihm – die hoffentlich gesicherte Tommy Gun geschultert. „Bei der nächsten Kreuzung rechts!“, brüllt der Ozelot im scharfen Offizierston nach vorne. Aus der für Lush weiten Ferne sieht er den Lichtstrahl nach rechts abbiegen. Im nächsten Moment rummst es brachial. „Tür ist auf!“, wird im Gefreitenton zurückgebrüllt.
Als Lush die Abbiegung tief schnaufend erreicht, rutscht der Pianistenlemur seinen Arm runter und rennt schon mal vor. Kommentar: „Die Firma dankt.“ Der Ozelot tut es ihm gleich. Lush erreicht - sich an der absolut absurd ekelerregenden Wand stützend - komplett außer Atem den Raum und lugt hinein. Zu seiner Überraschung sitzen alle Tiere bereits in einem ewig großen Stuhlkreis um einen Billardtisch herum und scheinen etwas zu erwarten. Der Ozelot steht auf der grünen Matte des besagten Tischs und bereitet ein entscheidendes Spiel vor. Die aufgetretene Tür hinter Lush wird, kaum nachdem er den Raum getreten hat, von vier Leoparden geschlossen und mit allen übriggebliebenen Möbelstücken verriegelt. Eine Stimmung voller Hoffnung, unerträglicher Erwartung und Dankbarkeit macht die Luft noch stickender für Lush.
Mit einem für Lushs Verhältnisse überlauten und überzornigen Schrei zerschlägt er nach einigen Momenten die für ihn unerträgliche Atmosphäre des Unverständnisses: „Was passiert hier?!“ Die Menge starrt auf den Ozelot. Eine Luft zum Schneiden. Olivier lässt sich eine Zigarette geben und zündet sie in einer unnachahmlich langsamen und bedachten Manier mit seinem Funhill an. Er nimmt einen tiefen Zug ... und atmet aus. Die Offiziersmütze richtet er zurecht. „Lush, mein Freund! Du kanntest mich bisher nur in zivil und ich dachte, dass dieser Moment viel später kommen würde. Doch die Zeit rennt und wir müssen handeln.“ Lushs Ungläubigkeit ist ihm von jeder einzelnen Falte seines Gesichts abzulesen. „Das hier wird ein Spiel um Leben und Tod. Nimmst Du es an, leben wir vielleicht ... lehnst Du es ab, sterben wir.“ Gerade als Lush seine ganze Energie sammeln will, um wiederum zu schreien - er fühlt sich hintergangen – legt Kiki eine Hufe auf seine linke Schulter. „Nimm’ an!“, flüstert sie zart in sein Ohr. Lush überlegt. Er kann nicht mit Verantwortung dieser Art umgehen. Weder hat er die Erfahrung noch den Mut. Aber er atmet tief ein und aus und kanalisiert seine Energie auf folgende Worte: „Ich nehme selbstverständlich an.“ ... Die Tiere beginnen wie in Trance zu klatschen ... nach einem weiteren Ein- und Ausatmen fragt er: „Warum ein Spiel? Ich würde Euch immer helfen.“ – „Weil - beim Billardspielen kann man einfach besser nachdenken“, antwortet der Ozelot ruckzuck.
Keinen Augenblick später reicht ein Leopard Lush erleichtert einen Queue und Kreide, ein anderer dem Ozelot einen und selbiges. Beide beginnen die Spitzen der – zu Lushs Belustigung – rosa Spielgeräte zu polieren. Olivier stellt sich auf die Kante, setzt auf den Hinterpfoten stehend an, stößt mit der weißen Kugel in das von ihm gebildete Dreieck und versenkt gleich mehrere Kugeln der selben Art. Er setzt zum nächsten Schuss an und ascht kurz vorher in einen kristallenen Aschenbecher ab. Wieder eine Kugel. „Wer oder was bist Du eigentlich?“, fragt Mr Lush voller Erstaunen. „Ich bin nicht das, was Du glaubtest, was ich bin.“ – „Was heißt das?“ Nachdem der kleine, gepunktete Kater nochmals eine Kugel in der linken Außentasche versenkt hat, nimmt er seine Zigarette wieder auf und sagt: „Ich bin ein Rebell, Geflohener und war ehemals zu etwas anderem bestimmt gewesen. Ich stand auf der anderen Seite. Ich wurde zum Soldaten ausgebildet und bin desertiert.“ Lush kann seinen Menschenohren nicht trauen. Tausend Fragen sammeln sich in seinem Kopf. „Warst Du auch eines der Tiere des Mr Mahtos?“ Der Ozelot schweigt zunächst und konzentriert sich auf die nächste Kugel. „Es waren schreckliche Jahre. Wir wurden geschliffen für ein für mich nicht erkennbares Ziel. Immer nur war mein Gedanke: Vielleicht nur schlussendlich als Versuchskaninchen. Vielleicht nur als weiterer Zuchthengst.“
Eine weitere Kugel fällt. „Viele meiner Ozelots wurden an Ort und Stelle vor allen erschossen, wenn sie die Aufgaben nicht meistern konnten. Ich kann nicht ... ich kann nicht viel mehr darüber erzählen ... ich habe es verdrängt.“ Er nimmt einen Schluck aus einem Flachmann, den ihm der Kolibri Flavio Flamingo reicht. „Ich brach mitten in der Nacht aus. Wurde von Menschen und Tieren verfolgt ... und habe es irgendwie aus dem Fadenkreuz geschafft. Ich habe mich nach sieben Tagen der Flucht nachts vor die Tür einer Stadtbekannten in Soho gelegt in der Hoffnung, dass sie mich aufnimmt – eine Leine habe ich vorher gestohlen und legte sie dazu. In meiner nächsten Gefangenschaft wurde ich zum Trinker des Spirituosenschranks meiner Eigentümerin.“
Der Ozelot schießt kraftvoll - zur Freude des Publikums - eine weitere Kugel genau in die Seitentasche. Lush kommen die Tränen – nicht nur weil er verliert. Er hatte den Ozelot noch nie in dieser Façon gesehen. Verletzlich, ehemals gebrochen ... ein Flüchtling seiner Bestimmung. „Du musst uns helfen, Lush!“ - „Ich würde gerne ... aber wie kann ich?“ - „Wir geben Dir ein Training und Du wirst uns befreien.“ Der Ozelot setzt zur letzten Kugel an und versenkt – Lush kam bisher immer noch nicht zum Zug. Kurz vor der schwarzen Kugel gibt der Ozelot Lush seinen Queue und sagt: „Hilfst Du uns? Bist Du dabei?“ Lush nimmt den Queue, zieht Luft, zielt kurz und – zu seiner eigenen Überraschung versenkt er die schwarze Kugel. „Selbstverständlich, mein Freund! Ein weiteres Spiel ... oh, und eine Zigarette vielleicht?“ MM/JHS